Kendo

Längst ist der Waffenlärm verklungen, und auch zum persönlichen Schutz haben Schwerter ihre einstmals notwendige Bedeutung verloren. Was aber bewegt dann mehr als 4 Millionen Japaner und gut weitere 100000 Menschen in Europa, Amerika und Asien, sich mit viel Intensität einer Sache hinzugeben, die antiquiert und feudal-militäristisch scheint?
 
Wie viele andere Kulturgegenstände hat Japan auch das Schwert vom Festland, also aus China übernommen. Allerdings lässt sich bis heute nicht exakt feststellen, wann genau das Schwertfechten in Japan entstanden ist. Die ersten japanischen Schwerter waren relativ gerade, wiesen noch keine besonderen Ausprägungen in der Klingenform auf und waren von einer durchweg schlechten Schmiedequalität.
Als die Tokugawa-Famile schliesslich im 17. Jahrhundert das Land befriedete, erlebten alle Kampfkünste eine Wandlung, in dem der geistige Überbau des Waffenkünste formuliert wurde und fortan als das eigentliche Ziel des Kämpfens und Übens galt. Die Summe aus körperlichen und geistigen Erfahrungen wurde vom Meister nur den besten Schülern als Geheimlehre übermittelt.
 
Dies geschah in Form von Geschichten und besonderen Schriftrollen. Andere fassten die Quintessenz ihrer Erkenntnis in Kurzgedichten zusammen:

„Manche meinen,
Zuschlagen sei einfach Zuschlagen,
aber Zuschlagen ist nicht Zuschlagen,
und Töten ist nicht Töten.“

„Siege gehört nur dem einen,
der vor Beginn des Kampfes schon seines Ichs nicht gedenkt,
der Ursprung,
im Nicht-Ich wohnt.“

„Auf Nicht-Denken bedacht sein, ist immer noch Denken.
Oh, wäre ich erst jenseits von Denken und Nicht-Denken!“

 

Miyamoto Musashi (1584-1645), der Begründer der >Zweihand-Schwertschule< und in 60 Duellen unbesiegt, nennt den Grundsatz der >Leere< als letztes Geheimnis der Schwertkunst, das sich nur nach jahrzehntelanger harter Übung offenbart: 
1868 begann die Meiji-Zeit und mit ihr der Anschluss Japans an den Westen. Die Samurai wurden als Stand aufgelöst, dass öffentliche Tragen von Schwertern verboten. Nach einer kurzen Phase der Ablehnung aller traditionellen Werte, erwachte das Interesse an den Kampfkünsten jedoch bald erneut, zumal der chinesich-japanische und russisch-japaniesche Krieg das Nationalbewusstsein stärkten und ein Gefühl für Waffekunst begünstigten.
1911 wurde in Japan Kendo als offizieller Teil des Sportprogramms in die Schulen eingeführt. Nach dem 2. Weltkrieg verboten die Alliierten Kendo zunächst, da es in den dreissiger Jahren auch für die Zwecke der Militärregierung und ihrer Politik missbraucht wurde. Für eine Weile kam die Kendo-Bewegung zum Erliegen. Doch eine Anzahl Kendo-Lehrer versuchten eine neue Form zu finden, die Kendo frei von ultranationalen und militaristischen Idealen vermitteln sollte. Das Resultat war eine Form, die „shinai kyogi“ -wörtlich „Bambusschwert-Wettspiel“- genannt wurde und als reine Sportform des Kendos 1952 wieder als ein Teil der Sporterziehung in das Programm der Schulen und Universitäten einzog.
 
Das Kendo-Training wird seitdem definiert als ein:
  • Mittel zur Entwicklung des Körpers

  • Mittel zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit
  • Mittel zum Erlernen sozialen Verhaltens, unter anderem Liebe zur Nation und Gesellschaft, in der man lebt
  • Mittel zum Aufbau und Entwicklung einer menschlichen und zivilisierten Gesellschaft

 

In der folgenden Zeit wurde Kendo auch ausserhalb Japans bekannt. Kendo-Lehrer bereisten Europa und Amerika mit dem Erfolg, das 1970 die Internationale Kendo Föderation gegründet wurde und seit dem regelmässig Welt- und Europameisterschaften stattfinden, an denen auch Schweizer Anhänger dieser Disziplin teilnehmen.

Die historische Entwicklung hat verschiedene Übungsformen entstehen lassen, die bis auf den heutigen Tag erhalten sind. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Schutzkleidung, wie sie heute noch üblich ist, und die Schwert-Attrappe (Shinai) erfunden. Vorher wurde mit dem scharfen Schwert oder schweren, massiven Holzschwertern geübt. Eine diese frühen Übungsformen wird „Iai-do“ genannt. Der Schwertträger übt für sich allein die Kunst, das Schwert aus der Ruhe heraus schnell, tödlich und sicher ziehen und führen zu können. Zwar wird das Schwert gegen einen imaginären Gegner geführt, doch das Ziel der Übung ist nicht eine Perfektion im Töten, sondern das Erreichen von Präzision in der Waffenführung und Angstfreiheit.

Die zweite Übungsform nennt man Kata (Formtraining). Bei der Kata wird zusammen mit einem Partner geübt und entweder das Katana (Schwert) oder ein massives Holzschwert zur Ausführung der Bewegung benutzt. Der Bewegungsablauf ist bis ins Detail festgelegt und erfordert von den Ausführenden grosse Aufmerksamkeit. Die Kata vermittelt neben den verschiedenen Techniken des Schlagens, Konterns und den dazu nötigen konzentrativen Leistung, meditative und zeremonielle Elemente.
 
Die meist praktizierte Übung, das eigentliche „Kendo- Training“, betreibt man mit dem Bambusschwert und in Schutzkleidung. Über der Baumwolljacke und dem weiten Hosenrock wird ein aus dicken Stoffplatten gefertigter Hüftschutz (Tare) und der Brustpanzer (Do) angelegt. Die schwere Gesichtsmaske, die auch den Kehlkopf schützt, und die dicken gepolsterten Handschuhe vervollständigen die Rüstung. War in den alten Zeiten der ganze Körper das Ziel des gegnerischen Schwertes, so sind es im heutigen Kendo die durch die Ausrüstung geschützten Körperteile, nämlich der Kopf (Men), das Handgelenk (Kote) und die Brustseite (Do) sowie der Kehlkopf und die Brust (Tsuki).
 
Um im Wettkampf die nötige Sicherheit zum Erlangen eines Punktes gewinnen zu können, werden die Grundschläge auf diese Flächen endlos wiederholt, denn folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Die Trefferfläche muss einwandfrei mit dem oberen Drittel und der „Schneide“ des Bambusschwertes getroffen werden; Die Technik muss mit „ki-ken-tai-ichi“ (Geist-Schwert-Körper-Einheit) vollzogen sein, das heisst die Schlag- bzw. Stosstechnik muss präzise mit dem Schwert (Ken) bei gleichzeitiger Ausführung eines Stampfschrittes in korrekter, aufrechter Körperhaltung (tai) und mit Konzentration unter lautem Kampfschrei (ki) ausgeführt werden.
 
Betritt man eine japanische Fechthalle, in der vielleicht 20 bis 30 Übende in raschen Bewegungen mit lautem Klatschen und Geschrei ihre Bambusschwerter schwingen und aufeinander einschlagen, so mag insbesondere ein westlicher Betrachter sehr verwirrt sein, und es braucht immer einige Zeit bis er erkennt, dass das vermeintliche Chaos Methode hat. Phasen der Ruhe und Entspannung wechseln mit turbulenten Gruppentrainings- und Kampfügungen mit speziellen Einzeltrainings beim Lehrer. Die Unterrichtsmethode ist direkt und unmittelbar. Das alte Samuraiwort „Kein Verlass auf Worte“ gilt auch hier. Ein Bewegungsfehler wird nicht erläutert, sondern dem Schüler da durch verdeutlicht, dass der Lehrer mit die Lücke nutzt und ihn trifft. Dieses Lernen mit dem Körper vermittelt Erfahrung. Die Auseinandersetzung, die sich für jeden Kendo- Übenden zwangsläufig ergibt, lässt ihn Erkenntnisse über seine eigene Person gewinnen, so dass von da aus leicht verständlich wird, warum die Kendo- Übung als Mittel zur Persönlichkeitsformung und Selbstfahrung gut geeignet ist.
 
Die Ausbildung der geistigen Eigenschaften hat faszinierenderweise auch zur Folge, dass ein Kämpfer – wenn er ständig übt- im Alter immer besser wird; im Gegensatz zu den meisten anderen sportlichen Disziplinen, bei denen man die Höchstleistungsgrenze schon spätestens mit 30 überschreitet. Macht bei Anfängern das körperliche Training noch etwa 80 % und das geistige 20 % aus, so verkehrt sich dieses Verhältnis mit zunehmendem alter immer mehr ins Gegenteil. 60 bis 70jährige kämpfen mit minimalem Körpereinsatz brilliant und erfolgreich, weil sie genau beobachten können und sich nur dann bewegen, wenn es zweckmässig ist. Die Konzentration und Schnelligkeit manch alter Kendo-Lehrer ist enorm. Ausserdem ist immer ein gewisser Grad an Persönlichkeits-Vervollkommnung zu beobachten, denn Furcht, Unentschlossenheit und Zweifel an sich selbst sind bei den Kendo- Meister nicht sehr ausgeprägt. Das Freisein von diesen psychologischen Hemmnissen befähigt den Lehrer schliesslich auch, jeder Situation gerecht zu werden, und das nicht nur auf dem Fechtboden. So ist die Fechthalle in Japan, gleichgültig ob sie sich in einer Universität, in einem Betrieb oder aber in einem Stadtteil – offen für jedermann- befindet, ein Platz, an dem nicht nur körperlich hart trainiert wird, sonder wo auch sozialer Erfahrungsaustausch und Kontakte stattfinden.
Das mag der Grund dafür sei, dass die Anzahl der Kendo-Jünger ständig zunimmt, denn nach wie vor stellt dieser Übungsweg eine interessante und vielseitige Alternative zum westlichen Sport dar.